1. Barrierefreiheit

    bei digitalen Produkten

    Vorgetragen für die Bayerische Museumsakademieam 20. Juli 2021
    von Joschi Kuphal auf Twitter als JKPHL
  2. Organisatorisches

    • Folien online unter https://jk.is/mpz
    • Barrierefreiheit im Vortrag: Bitte Hinweis bei Unverständlichkeit / Unklarheit
    • Fokus auf Websites, vieles aber auch anwendbar auf andere digitale Produkte
    • Wortmeldungen jederzeit gerne!
  3. Wer ist der Kerl?

    Portraitfoto von Joschi Kuphal als 4-Jähriger
    • ›   erste Codezeilen als 10-Jähriger, Websites seit 1995
    • ›   Ausbildung im Architektur- und Designumfeld
    • ›   Web- & Werbeagentur tollwerk in Nürnberg seit 2000
    • ›   qualifizierter BITV- / WCAG-Prüfer im BITV-Test-Prüfverbund
    • ›   Initiator des (Accessibility Clubs, CoderDojo Nürnberg …)
  4. Was redet der eigentlich?

    1. Barrierefreiheit im Web
    • Was, für wen und warum?
    • Rechtslage & Regelwerke
    2. Barrierefreiheit umsetzen
    • Anforderungen gem. BITV 2.0
    • Organisation, Design, Technik & Inhalt (ein kleiner Auszug)
  5. Barrierefreiheit im Web

    Was, für wen und warum?

  6. Portrait of Tim Berners-Lee, inventor of the World Wide Web

    The power of the Web is in its universality. Access by everyone regardless of disability is an essential aspect.

    Tim Berners-Lee, Erfinder des World Wide Web

  7. Barrierefreies Internet sind Web-Angebote, die von allen Nutzern unabhängig von körperlichen oder technischen Möglichkeiten uneinge­schränkt (barrierefrei) genutzt werden können.

    Wikipedia

  8. Nutzende

    Um wen geht es eigentlich?

  9. Behinderungen (Art)

    Sinnesbehinderungen
    z.B. Blindheit, Sehschwächen, Fehlsichtigkeit, Gehörlosigkeit, Taubblindheit
    Körperliche Behinderungen
    z.B. motorische Einschränkungen
    Sprachbehinderungen
    in Laut und / oder Schrift
    Kognitive Behinderungen
    z.B. Lernbehinderung, mangelndes Abstraktionsvermögen, Legasthenie, Rechenschwäche
  10. Behinderungen (Dauer)

    Permanente Behinderungen
    definierende körperliche Eigenschaft einer Person
    Temporäre Behinderung
    Verletzung, Krankheit oder kurzzeitige Behinderung
    Situative Behinderung
    Umgebungen oder Situationen, die einschränken
  11. Spezielle Nutzende

    • mobile Nutzende (eingeschränkte Internetverbindung, schwache technische Ausstattung, eingeschränkter Funktionsumfang)
    • unerfahrene Nutzende
    • Senioren & Kinder
    • Nicht-Muttersprachliche
    • Suchmaschinen / Robots
  12. Alle sind betroffen!

    Microsoft inclusion illustration

    • mindestens in bestimmten (Lebens)Situationen!
  13. Barrieren

    Was sind Hindernisse und wer ist zuständig?

  14. Design-Barrieren

    beruhen auf unflexibler oder mangelhafter Gestaltung

    • liegen im Verantwortungsbereich von Webdesigner*innen
    • Richtlinien zur Beseitigung sind die WCAG
  15. Design-Barrieren: Beispiele

    • unübersichtliches Layout
    • mangelhafte Textgestaltung (Schrift, Gliederung)
    • schwierige Farb- oder Kontrastverhältnisse
    • schlechte Nutzerführung, zu komplexe Abläufe (UX)
    • CAPTCHA
      CAPTCHA example
  16. Technisch-funktionale Barrieren

    beruhen auf verwendeten Techniken oder Programmierungen, Hard- und Softwareeinschränkungen (auch durch assistive Technologien) oder Problemen bei der Datenübertragung

    • liegen im Verantwortungsbereich von Webentwickler*innen und -dienstleistenden
    • Richtlinien zur Beseitigung sind die BITV, WCAG, UUAG, ATAG
  17. Technisch-funktionale Barrieren: Beispiele

    • fehlende oder fehlerhafte Struktur & Semantik (HTML)
    • mangelhafte Tastaturbedienbarkeit
    • schlechte technische oder perzeptive Performance
    • mangelnde Fehlertoleranz und fehlende Rückfallmechanismen
    • unnötig große Datenmengen (ggf. auch finanzielle Barriere)
    • Hard- und Softwareanforderungen, die Clientsysteme u. U. nicht abbilden können (Leistung, Bildschirmgröße, Sensoren, Ein- & Ausgabegeräte)
  18. Redaktionelle & inhaltliche Barrieren

    beruhen auf unzureichender redaktioneller oder struktureller Aufbereitung des Inhalts und seiner Umsetzung für das Internet

  19. Redaktionelle & inhaltliche Barrieren: Beispiele

    • sprachliche Komplexität (verschachtelte Sätze, umständliche Formulierung, Fachbegriffe)
    • Bilder und Grafiken ohne alternative Beschreibungen, Text in Bildern
    • Video und Audio ohne alternative Aufbereitungen
  20. Organisatorische Barrieren

    sind bedingt durch organisatorische Umstände und das Umfeld, in dem Entscheidungen getroffen werden

    • liegen im Verantwortungsbereich von Auftraggebenden und Projektleitenden
    • benötigen Bewusstmachung, Aufklärung und Priorisierung
  21. Organisatorische Barrieren: Beispiele

    • mangelndes Bewusstsein und fehlender Handlungswille in Sachen Barrierefreiheit
    • mangelnde technische Fertigkeiten
    • Angst vor hässlichen, eingeschränkten Ergebnissen
    • fehlendes Budget (z.B. für Gebärdensprach-Videos, alternative Aufbereitungen, einfache Sprache)

    WebAIM Reasons for Inacessibility

  22. Assistive Technologien

    Gängige Hilfsmittel zur Unterstützung

  23. Assistive Technologien

    Sinnesbehinderungen
    • Screenreader (akkustische Ausgabe + Braille-Anzeige)
    • Bildschirmlupe
    Körperliche Behinderungen
    • Spezielle Eingabegeräte (Einhandtastatur, vergrößerte Tastatur, Mouth Stick, Switch Control, Sip-and-puff Control, Sprachsteuerung)
    Kognitive Behinderungen
    • Leichte / Einfache Sprache
    • Illustrationen & Schaubilder
  24. Gründe für Barrierefreiheit

    Warum müssen wir uns kümmern?

  25. Weil …

    • wir mit unseren digitalen Produkten möglichst viele Menschen erreichen möchten
    • wir alle irgendwann selbst betroffen sind
    • wir damit einen wichtigen Beitrag zur einer inklusiven Gesellschaft leisten
    • sich die Gesetzeslage ändert
  26. Gesetzeslage

    Es ist Bewegung in der Sache!

  27. International

    • Vorreiter USA, Großbritannien
    • USA: aktuell etwa eine ADA-Klage pro (Arbeits)Stunde (Quelle)
  28. Europa

    • EU-Richtlinie 2016/2102 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen (seit Dezember 2016)
    • Gemäß des EAA (EU-Richtlinie 2019/882) gibt es ab 28. Juni 2025 eine einklagbare Verpflichtung für erste privatwirtschaftliche Unternehmen (verabschiedet im Frühjahr 2019)
    • Vorreiter Österreich: Barrierefreiheit ist Pflicht für Online-Shops (seit 2016)
  29. Deutschland

    • Barrierefreiheit ist seit 2002 Pflicht für öffentlich zugängliche Internetangebote der Bundesverwaltung gem. BITV (seit 2002)
    • Seit September 2018 Pflicht für alle öffentlichen Stellen (z.B. Landesministerien, Jugendämter, Polizeibehörden, Schulen, städtische Krankenhäuser, Sparkassen, Industrie- und Handelskammern, etc.) gemäß EU-Richtlinie 2016/2102; unterschiedliche Umsetzungsfristen
    • Seit 25. Mai 2019 bezieht sich die BITV im Wesentlichen auf die WCAG 2.1
  30. WCAG-Adoption

    Bildquelle: 3Play Media

  31. Barrierefreiheit umsetzen

    Anforderungen, Herangehensweise & grundlegende Techniken

  32. Anforderungen BITV 2.0

    • technisch und gestalterisch barrierefreie Website mit WCAG AA Konformität
    • Erläuterungen in Leichter Sprache und Gebärdensprache (auf der Startseite)
    • Erklärung zur Barrierefreiheit inkl. Feedback-Mechanismus
    • auch Nicht-HTML-Dokumente müssen barrierefrei sein (z.B. Office-Dokumente, PDF)
    • Veröffentlichungen in Sozialen Medien sind barrierefrei zu gestalten
  33. Warnung

    Wir kratzen hier nur an der Spitze des Eisbergs!

    Warnung

  34. Organisatorische Maßnahmen

    Ein kleiner Auszug …

  35. Sensibilisierung

    • Bewusstmachung auf der Entscheider*innenebene
    • Aufklärung: Barrierefreie digitale Angebote sind NICHT:
      • häßlich (im Design eingeschränkt)
      • primitiv (in der Funktion eingeschränkt)
      • unbezahlbar
    • barrierefreie digitale Angebote nutzen nicht nur Behinderten, sondern allen Menschen (und sogar manchen Maschinen)
  36. Priorisierung

    • Barrierefreiheit ist kein „Add-On“
    • viele Disziplinen sind beteiligt (Konzept, Design, Umsetzung, Redaktion)
      → Umsetzung & Redaktion können Konzept- & Designprobleme nicht beheben!
    • Aufwandsexplosion bei nachträglichem Ansatz (bishin zur kompletten Untauglichkeit)
  37. Was kostet ein Fehler?

    Bildquelle: Scott Ambler

  38. Beauftragung

    • Auswahl von kundigen Dienstleister*innen
    • Barrierefreiheit thematisieren und zum Auswahlkriterium machen
    • Kompetenz nachweisen lassen: Referenzen, Zertifizierung (z.B. IAAP)
    • Zielsetzung im Auftrag konkret artikulieren, z.B.
      • BITV 2.0 / WCAG AA Konformität
    • Ggf. auf Zertifikat hinarbeiten, z.B. BIK BITV-Test
      • Selbsttest ist möglich!
  39. Budgetierung

    • 90% aller Maßnahmen sind einfach nur „gutes Handwerk“ und kein tatsächlicher Mehraufwand während der Umsetzung
    • Ausnahmen, z.B. Aufbereitung von Medienalternativen
      • Captions & Audiodeskriptionen für Videos
      • Transskripte für Video & Audio
      • Gebärdensprachvideos
      • Texte in einfacher / leichter Sprache
    • WICHTIG: Es werden Experten mit langjähriger Erfahrung benötigt
      → Ausbildung & Expertise müssen honoriert werden (wie überall)!
  40. Kontinuität & Schulung

    • fortlaufende Sensibilisierung & Ertüchtigung aller Beteiligten
    • dauerhafte Qualitätssicherung in der Redaktion (Texte, Bilder, etc.)
    • regelmäßige Prüfung, technische Aktualisierung und ggf. Rezertifizierung
    • jährliche Prüfung und Anpassung der Barrierefreiheitserklärung
  41. Konzept & Design

    Ein kleiner Auszug …

  42. Inclusive Design Principles

    • gleichwertiges Erlebnis bieten
    • Nutzungssituation berücksichtigen
    • Konsistenz wahren
    • Kontrolle geben
    • Auswahl bieten
    • Inhalte priorisieren
    • Wert ergänzen

    inclusivedesignprinciples.org

  43. Responsive Design

    • ein flexibles Design für alle Ausgabegrößen (Smartphones, Tablets, Desktop)
    • wichtig für unterschiedliche Nutzungsszenarien, aber auch bei Bildschirmvergrößerung
    • Pluspunkt: Rankingfaktor für Suchmaschinen
  44. Etablierte UX-Patterns

    • bewährte Design-Muster nutzen (kognitive Last reduzieren)
    • exotische Experimente vermeiden und nicht „in Schönheit sterben“
    • klares, gut strukturiertes Gesamtlayout; logische Reihenfolge
    • Orientierung geben: Wo befinde ich mich, was ist aktiv?
  45. Schriftart & Textgestaltung

    • ausreichend große Schriften
    • Schriftgröße, Laufweite und Zeilenabstand müssen harmonieren
    • lesbare Schriftarten (Dyslexie, kognitive Behinderungen)
  46. Farben & Kontraste

    • zweckmäßige, reduzierte Farbpalette
    • wichtige Information oder Statusänderungen niemals nur über Farben kommunizieren (z.B. „grüne Schaltfläche“, Farbwechsel bei Hover), immer zusätzliche Merkmale (Text, Form, Größe, grafische Elemente)
    • Farbfehlsichtigkeiten berücksichtigen: 8-9% der deutschen Männer sind betroffen
    • Mindestkontraste: zwischen Texten / Objekten, ihren Umgebungen und Zuständen
    • High-Contrast-Modus: Funktion des Betriebssystems
  47. Medien & Animation

    • zweckmäßiger Medieneinsatz:
      Ablenkung (ADHS) ↔ als anschauliche Alternative (kognitive Behinderungen)
    • Verzicht auf „Autoplay“, Möglichkeit zur gezielten Steuerung
    • sparsamer, bewusster Einsatz von Animationen; bestenfalls abschaltbar
  48. Technik & Funktion

    Ein kleiner Auszug …

  49. Validität & Semantik

    • HTML ist die technische Grundlage jeder Website
    • HTML verleiht Inhalten Bedeutung (Semantik)
      → macht einfachen Text zur Überschrift, zum Absatz, zur Liste …
    • assistive Technologien sind auf Bedeutung angewiesen
    • fachkundige, valide HTML-Nutzung ist die Basis für Barrierefreiheit im Web
      → Umsetzer*innen müssen ihr Handwerk beherrschen!
    • Links führen zu einer Ressource
    • Buttons lösen eine Aktion aus (innerhalb der aktuellen Ressource)
    • Signifikanter Unterschied in Funktion & Bedienung, dennoch häufig falscher Einsatz
  50. Formulare

    • Feedback-Kanal Nr. 1 zwischen Internetnutzer*innen und -anbieter*innen
    • ca. 40% aller automatisiert ermittelbaren Barrierefreiheitsprobleme haben ihre Ursache bei Formularen
    • Formularfelder benötigen stets eine aussagekräftige Beschriftung
    • logische Reihenfolge und zweckmäßige Darstellung von Formularfeldern
    • aussagekräftige und hilfreiche Fehlermeldungen
  51. Tastaturbedienbarkeit

    • alternative Eingabemethoden berücksichtigen
    • durchgängige Tastaturbedienbarkeit sicherstellen
    • viele assistive Technologien nutzen oder simulieren Tastatursteuerung
    • z.B. nicht auf Hover-Verfügbarkeit verlassen (nicht verfügbar auf Touchscreens)
    • Tastaturfokus muss immer deutlich sichtbar sein
      WICHTIG: Nicht alle Screenreader- oder Tastaturnutzer*innen sind blind!
    • einfach mal Maus abstöpseln und selbst testen ;)
  52. Screenreader-Demo

    Bildquelle: CERN

  53. Präferenzen respektieren

    • keine Annahmen treffen, Nutzer*innen selbst bestimmen lassen
    • Seitenzoom nicht verhindern, Bildschirmorientierung nicht erzwingen
    • präferierte Schriftarten & -größe (Textzoom)
    • reduzierte Animationen
    • „Dark Mode“ (individuelles Farbschema)
  54. Inhalt & Redaktion

    Ein kleiner Auszug …

  55. Verständlichkeit

    • zielgruppengerechtes Sprachniveau
    • so einfach wie möglich und nur so komplex wie nötig formulieren
    • gute Textstruktur mit sinnvollen Absatzlängen und Zwischenüberschriften
  56. Einfache / Leichte Sprache

    Website der Bundesregierung in Leichter Sprache

  57. Alternativtexte

    • Bilder und Grafiken benötigen einen redaktionell gepflegten Alternativtext, der als Ersatz dienen kann
    • Faustregel: Kurz, kompakt, mit essenziellen Infos
    • Floskeln vermeiden (z.B. „Foto von …“)
    • Hilfestellung beim Schreiben: An alt Decision Tree
    • Pluspunkt: SEO
  58. Alternative Medien

    • Untertitel („Captions“) für vertonte Videos
    • Audiodeskriptionen für Videos
    • Transkripte für Video & Audio
    • Gebärdensprachvideos für Audio & vertonte Videos
  59. Aussagekräftige Beschriftungen

    • Link- und Überschriftenlisten sind wichtiges Navigationshilfsmittel für assistive Technologien
    • Links und Überschriften so formulieren, dass sie auch außerhalb ihres Kontexts funktionieren
    • Negativbeispiele „mehr“, „weiterlesen
  60. Sprache

    • allgemeine Sprachangabe für jedes Dokument
    • individuelle Angabe für einzelne Fremdwörter
    • hilft assistiven Technologien z.B. bei der Aussprache
    • Rechtschreibkorrektur in Formularen
    • automatische Übersetzung
  61. Zusammenfassung

    Thesen zum Abschluss

  62. Alle sind gefragt!

  63. … dann klappt's auch!

    (Symbolbild, mit Vorsicht zu genießen)

  64. Barrierefreiheit …

    • ist weder schwer, noch hässlich oder beschränkt
    • beginnt mit einem „Mind Shift“
    • ist bereits mit einfachen Mitteln grundlegend herzustellen
    • ist kein gut gemeintes „On Top“-Feature, sondern unbedingtes Qualitätskriterium
  65. Digitale
    Kultur-
    vermittlung

    Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst

  66. Danke!